Einleitung
Die Dissoziative Identitätsstörung (DIS), früher als Multiple Persönlichkeitsstörung bekannt, gehört zu den komplexesten und gleichzeitig faszinierendsten psychischen Störungen. Sie ist durch das Vorhandensein von zwei oder mehr distinkten Persönlichkeitszuständen gekennzeichnet, die abwechselnd die Kontrolle über das Verhalten eines Menschen übernehmen. Dieses Phänomen geht weit über normale Stimmungsschwankungen hinaus und stellt eine tiefgreifende Fragmentierung der Identität dar. In diesem ausführlichen Artikel werden wir uns mit allen Aspekten der Dissoziativen Identitätsstörung befassen – von ihrer Geschichte über Diagnosekriterien bis hin zu Behandlungsmöglichkeiten und Heilungschancen.
Geschichte und Terminologie
Von der „Multiplen Persönlichkeit“ zur „Dissoziativen Identitätsstörung“
Die Geschichte der DIS ist geprägt von wissenschaftlichen Debatten und Paradigmenwechseln. Der erste gut dokumentierte Fall stammt aus dem Jahr 1791, als Eberhardt Gmelin den Fall einer jungen Frau beschrieb, die zwischen ihrer deutschen Identität und einer französischen Persönlichkeit wechselte. Im 19. Jahrhundert prägte der Psychiater Pierre Janet den Begriff der „Dissoziation“ als psychologischen Abwehrmechanismus.
Die Bezeichnung „Multiple Persönlichkeitsstörung“ wurde erstmals Ende des 19. Jahrhunderts verwendet. Besondere Aufmerksamkeit erhielt die Störung durch den Fall der „Eve“ (Christine Sizemore), der in den 1950er Jahren bekannt wurde und später im Buch „The Three Faces of Eve“ verewigt wurde.
Im Jahr 1994 erfolgte mit dem DSM-IV (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) die Umbenennung in „Dissoziative Identitätsstörung“. Diese Änderung reflektiert ein verändertes Verständnis: Es handelt sich nicht um multiple, vollständig separate Persönlichkeiten, sondern um eine fragmentierte einzelne Identität als Folge von Traumatisierungen.
Verständnis der Dissoziativen Identitätsstörung
Das Konzept der Dissoziation
Dissoziation beschreibt einen psychologischen Prozess, bei dem bestimmte Gedanken, Emotionen, Empfindungen oder Erinnerungen vom Bewusstsein abgespalten werden. Dies ist ein Kontinuum – von alltäglichen Erfahrungen wie dem „Tagträumen“ bis hin zu schweren dissoziativen Zuständen wie der DIS.
Bei der DIS geht die Dissoziation so weit, dass verschiedene Aspekte des Selbst nicht in eine kohärente Identität integriert werden können. Stattdessen entwickeln sich separate Identitätszustände oder „Alter“, die eigene Persönlichkeitsmerkmale, Erinnerungen und manchmal sogar physiologische Unterschiede aufweisen können.
Die Struktur der Persönlichkeitszustände
Die verschiedenen Identitätszustände bei DIS werden oft als „Alters“ (vom englischen „alternate personalities“) bezeichnet. Diese können unterschiedliche Namen, Alter, Geschlechter, Vorlieben, Fähigkeiten und Erinnerungen haben. Typischerweise existieren:
– Eine Hauptpersönlichkeit oder „Host“, die den Alltag bewältigt
– Kindliche Anteile, die traumatische Erinnerungen tragen können
– Beschützer, die in bedrohlichen Situationen aktiviert werden
– Verfolger oder selbstverletzende Anteile
– Hilfsidentitäten, die spezifische Funktionen übernehmen
Das Strukturniveau kann von Fall zu Fall stark variieren – von wenigen Alters bis hin zu Dutzenden oder in seltenen Fällen sogar Hunderten.
Ursachen
Das Trauma-Modell
Die aktuelle wissenschaftliche Evidenz unterstützt die Theorie, dass DIS eine Reaktion auf schwere, wiederholte Traumatisierungen in der Kindheit darstellt. Nach diesem Modell nutzen Kinder, die schweren Missbrauch oder Vernachlässigung erleben, Dissoziation als Überlebensmechanismus. Da ihr Gehirn noch in der Entwicklung ist, können diese dissoziativen Muster zur Grundlage ihrer Persönlichkeitsstruktur werden.
Besonders häufig sind:
– Sexueller Missbrauch in der Kindheit
– Körperliche Gewalt und Misshandlung
– Schwere emotionale Vernachlässigung
– Ritueller Missbrauch
– Medizinische Traumata
Typischerweise beginnt die Traumatisierung vor dem sechsten Lebensjahr, einer kritischen Phase der Identitätsentwicklung.
Neurobiologische Aspekte
Neuere Forschungen zeigen, dass frühkindliche Traumata die Gehirnentwicklung nachhaltig beeinflussen können. Bei DIS-Patienten wurden Auffälligkeiten in Hirnregionen festgestellt, die mit Gedächtnis, Emotionsregulation und Identitätsbildung zusammenhängen, insbesondere:
– Veränderungen im Hippocampus (Gedächtnisverarbeitung)
– Auffälligkeiten in der Amygdala (Angstzentrum)
– Veränderte Aktivitätsmuster im präfrontalen Kortex (Handlungssteuerung)
– Unterschiede in der Konnektivität zwischen verschiedenen Hirnregionen
Diese neurobiologischen Befunde unterstützen das Verständnis von DIS als Traumafolgestörung.
Symptome und Manifestationen
Kernsymptome
Die charakteristischen Merkmale der Dissoziativen Identitätsstörung sind:
1. Identitätswechsel: Betroffene erleben deutliche Wechsel zwischen verschiedenen Persönlichkeitszuständen, die sich in Verhalten, Sprache, Körperhaltung und Selbstwahrnehmung unterscheiden.
2. Amnesien: Häufig können sich Betroffene nicht an Ereignisse erinnern, die während der Kontrolle durch einen anderen Identitätszustand stattgefunden haben. Diese Gedächtnislücken gehen über normale Vergesslichkeit hinaus.
3. Depersonalisation: Das Gefühl, von sich selbst losgelöst zu sein oder den eigenen Körper von außen zu betrachten.
4. Derealisation: Die Wahrnehmung der Umgebung als unwirklich, verzerrt oder distanziert.
Begleitende Symptome und Komorbiditäten
Personen mit DIS leiden häufig zusätzlich unter:
– Posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS)
– Depressionen
– Angststörungen
– Selbstverletzendem Verhalten
– Substanzmissbrauch
– Schlafstörungen
– Somatischen Symptomen wie Kopfschmerzen oder Konversionssymptomen
Diese Komplexität der Symptomatik kann die Diagnosestellung erschweren und zur häufigen Fehldiagnose beitragen.
Diagnostik
Diagnostische Kriterien nach ICD-11 und DSM-5
Nach dem DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) sind für die Diagnose einer DIS folgende Kriterien erforderlich:
1. Zwei oder mehr distinkte Persönlichkeitszustände
2. Wiederkehrende Lücken in der Erinnerung an alltägliche Ereignisse, wichtige persönliche Informationen und/oder traumatische Ereignisse
3. Die Symptome verursachen klinisch bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigungen
4. Die Störung ist nicht Teil einer kulturell akzeptierten Praxis oder religiösen Erfahrung
5. Die Symptome sind nicht auf Substanzkonsum oder einen medizinischen Zustand zurückzuführen
Die ICD-11 (International Classification of Diseases) verwendet ähnliche Kriterien, betont jedoch stärker die Diskontinuität in der Identität und Selbstwahrnehmung.
Diagnostische Herausforderungen
Die Diagnose der DIS ist aus mehreren Gründen komplex:
– Betroffene verbergen ihre Symptome oft aus Scham oder Angst
– Die Dissoziation selbst kann Betroffene daran hindern, ihre Symptome wahrzunehmen
– Überlappungen mit anderen psychischen Störungen können zu Fehldiagnosen führen
– Der Wechsel zwischen Identitätszuständen erfolgt nicht immer offensichtlich
Studien zeigen, dass DIS-Patienten im Durchschnitt sieben Jahre im psychiatrischen System verbringen, bevor die korrekte Diagnose gestellt wird.
Diagnostische Instrumente
Zur Diagnostik werden strukturierte Interviews und standardisierte Fragebögen eingesetzt:
– SKID-D (Strukturiertes Klinisches Interview für Dissoziative Störungen)
– DES (Dissociative Experiences Scale)
– MID (Multidimensional Inventory of Dissociation)
Eine umfassende Diagnose sollte zudem eine detaillierte Anamnese, inklusive Traumageschichte, sowie die Ausschlussdiagnostik anderer Störungsbilder umfassen.
Therapeutische Ansätze
Phasenorientierte Traumatherapie
Die Behandlung der DIS folgt typischerweise einem dreiphasigen Modell:
Phase 1: Stabilisierung und Symptomreduktion
– Aufbau einer therapeutischen Beziehung
– Erlernen von Fertigkeiten zur Emotionsregulation
– Förderung der inneren Kommunikation zwischen den Identitätszuständen
– Etablierung von Sicherheit im Alltag
– Psychoedukation über DIS und Traumafolgen
Phase 2: Traumabearbeitung
– Vorsichtige Bearbeitung traumatischer Erinnerungen
– Integration dissoziativer Barrieren
– Förderung der Kooperation zwischen den Identitätszuständen
Phase 3: Integration und Rehabilitation
– Förderung der Identitätsintegration
– Entwicklung neuer Lebensperspektiven
– Soziale und berufliche Rehabilitation
Spezifische Therapieformen
Psychodynamische Ansätze
Die tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie und Psychoanalyse können helfen, unbewusste Konflikte zu erkennen und die symbolische Bedeutung verschiedener Identitätszustände zu verstehen.
Kognitive Verhaltenstherapie
Modifizierte Formen der Kognitiven Verhaltenstherapie können bei der Stabilisierung und dem Umgang mit dysfunktionalen Gedanken und Verhaltensweisen hilfreich sein.
EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing)
Diese speziell für Traumabehandlung entwickelte Methode kann unter Anpassung an die dissoziative Symptomatik eingesetzt werden, um traumatische Erinnerungen zu verarbeiten.
Sensorimotorische Psychotherapie
Dieser körperorientierte Ansatz berücksichtigt die körperlichen Aspekte des Traumas und kann helfen, somatische Erinnerungen zu integrieren.
Medikamentöse Unterstützung
Es gibt keine spezifische Medikation für DIS selbst, jedoch können bestimmte Psychopharmaka zur Behandlung begleitender Symptome eingesetzt werden:
– Antidepressiva bei komorbiden Depressionen oder Angststörungen
– Schlafmittel bei schweren Schlafstörungen
– In einigen Fällen niedrigdosierte Neuroleptika zur Stabilisierung
Die medikamentöse Behandlung sollte jedoch immer als ergänzende Maßnahme zur Psychotherapie betrachtet werden.
Der Heilungsprozess
Integration vs. Harmonische Koexistenz
In der Behandlung von DIS werden zwei Hauptziele diskutiert:
1. Integration: Hierbei werden die separaten Identitätszustände zu einer einheitlichen Persönlichkeit zusammengeführt. Dies geschieht schrittweise durch Abbau dissoziativer Barrieren und Teilen von Erinnerungen und Emotionen.
2. Harmonische Koexistenz: Bei diesem Ansatz liegt der Fokus auf verbesserter Kommunikation und Kooperation zwischen den Identitätszuständen, ohne notwendigerweise eine vollständige Verschmelzung anzustreben.
Die neuere Forschung betont, dass nicht für alle Betroffenen eine vollständige Integration das optimale Ziel darstellt. Der Heilungsprozess sollte individuell gestaltet werden und die Bedürfnisse sowie Ressourcen des jeweiligen Menschen berücksichtigen.
Prognose und Zeitrahmen
Die Behandlung der DIS ist typischerweise langwierig und kann mehrere Jahre in Anspruch nehmen. Studien zeigen jedoch, dass bei adäquater Therapie deutliche Verbesserungen erreicht werden können:
– Reduzierung dissoziativer Symptome
– Verbesserung der Alltagsfunktionalität
– Abnahme selbstschädigender Verhaltensweisen
– Verringerung von Hospitalisierungen
Brand et al. (2009, 2013) konnten in Langzeitstudien nachweisen, dass eine phasenorientierte Traumatherapie bei DIS zu signifikanten Verbesserungen führt. Nach einer durchschnittlichen Behandlungsdauer von 3-5 Jahren zeigten etwa zwei Drittel der Patienten deutliche Fortschritte.
Faktoren, die den Heilungsprozess beeinflussen
Der Therapieerfolg wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst:
– Schweregrad und Dauer der frühen Traumatisierung
– Vorhandensein eines unterstützenden sozialen Umfelds
– Stabilität der Lebenssituation während der Therapie
– Kontinuität der therapeutischen Beziehung
– Motivation und Ressourcen der betroffenen Person
– Fachkompetenz des Behandlungsteams
Kontroversen und Herausforderungen
Wissenschaftliche Debatte
Trotz umfangreicher Forschung bleibt die DIS ein kontroverses Thema in der Psychiatrie. Die Hauptdebatten betreffen:
1. Validität als eigenständiges Störungsbild: Einige Kritiker betrachten DIS als Variante anderer Störungen wie Borderline-Persönlichkeitsstörung oder PTBS.
2. Iatrogenese-Hypothese: Die These, dass Therapeuten die Symptome durch Suggestion erzeugen könnten, wird von Skeptikern vertreten, obwohl transkulturelle Studien und neurobiologische Befunde gegen eine reine Iatrogenese sprechen.
3. „False Memory“-Debatte: Kontroversen um die Zuverlässigkeit traumatischer Erinnerungen haben die Diskussion um DIS beeinflusst.
Die aktuelle wissenschaftliche Evidenz stützt jedoch überwiegend die Validität der DIS als eigenständige, traumabasierte Störung.
Herausforderungen in der Versorgung
In der praktischen Versorgung von Menschen mit DIS bestehen erhebliche Hürden:
– Mangel an spezialisierten Therapeuten
– Begrenzte Therapieplätze mit langen Wartezeiten
– Unzureichende Kostenübernahme für Langzeittherapien
– Wissensdefizite im allgemeinen Gesundheitssystem
Diese strukturellen Probleme erschweren den Zugang zu adäquater Behandlung für viele Betroffene.
Leben mit DIS
Alltagsbewältigung
Menschen mit DIS entwickeln unterschiedliche Strategien zur Bewältigung ihres Alltags:
– Führen von Tagebüchern zur Überbrückung von Amnesien
– Kommunikationssysteme zwischen den Identitätszuständen
– Strukturierte Tagesabläufe zur Förderung von Stabilität
– Nutzung von Erinnerungshilfen für wichtige Informationen
– Vertrauenspersonen, die bei Identitätswechseln unterstützen können
Mit zunehmender Therapieerfahrung verbessert sich häufig die innere Kommunikation und Kooperation, was zu einer höheren Funktionalität im Alltag führt.
Gesellschaftliche Integration
Die gesellschaftliche Teilhabe bleibt für viele Betroffene eine Herausforderung:
– Stigmatisierung durch mediale Darstellungen (z.B. in Thrillern)
– Schwierigkeiten in Ausbildung und Beruf durch wechselnde Funktionsniveaus
– Herausforderungen in zwischenmenschlichen Beziehungen
Dennoch gelingt es vielen Menschen mit DIS, mit entsprechender Unterstützung ein erfülltes Leben zu führen, Beziehungen aufzubauen und beruflich tätig zu sein.
Selbsthilfe und Unterstützungsmöglichkeiten
Selbsthilfegruppen und Peer-Support
Der Austausch mit anderen Betroffenen kann eine wertvolle Ergänzung zur professionellen Therapie darstellen:
– Selbsthilfegruppen für Menschen mit dissoziativen Störungen
– Online-Communities und Foren
– Peer-Beratungsangebote
Diese Angebote fördern das Gefühl, mit den eigenen Erfahrungen nicht allein zu sein, und ermöglichen den Austausch praktischer Bewältigungsstrategien.
Ressourcen für Angehörige
Auch für Angehörige und Bezugspersonen stellt das Leben mit einem DIS-Betroffenen eine Herausforderung dar. Hilfreiche Unterstützungsangebote umfassen:
– Psychoedukative Materialien zum Verständnis der Störung
– Angehörigengruppen
– Beratungsangebote für Partner und Familienmitglieder
– Einbeziehung in den therapeutischen Prozess, wenn von allen Beteiligten gewünscht
Fazit
Die Dissoziative Identitätsstörung repräsentiert eine komplexe Reaktion auf schwere, wiederholte Traumatisierungen in der frühen Kindheit. Was einst als seltene Kuriosität galt, wird heute als schwerwiegende, aber behandelbare traumabasierte Störung verstanden. Die Forschung der letzten Jahrzehnte hat nicht nur die neurobiologischen Grundlagen besser beleuchtet, sondern auch wirksamere Behandlungsansätze hervorgebracht.
Trotz bestehender Kontroversen und Versorgungslücken können Menschen mit DIS durch spezialisierte traumafokussierte Therapie bedeutsame Fortschritte erzielen. Der Heilungsprozess ist typischerweise langwierig und anspruchsvoll, bietet jedoch die Möglichkeit zur Symptomreduktion, verbesserter Funktionalität und erhöhter Lebensqualität.
Die gesellschaftliche Aufklärung über das reale Erscheinungsbild der DIS – jenseits sensationalistischer medialer Darstellungen – bleibt eine wichtige Aufgabe. Nur durch ein verbessertes öffentliches Verständnis kann die Stigmatisierung reduziert und der Zugang zu adäquater Versorgung verbessert werden.
Für Betroffene selbst ist die Botschaft wichtig, dass ein Leben jenseits der traumabedingten Fragmentierung möglich ist – sei es durch schrittweise Integration oder die Entwicklung einer harmonischen inneren Kooperation. Der Weg zur Heilung mag herausfordernd sein, doch mit geeigneter Unterstützung können Menschen mit DIS eine neue Kohärenz in ihrer Identität und ihrem Leben finden.
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Hinweis: Dieser Artikel dient ausschließlich der Information und ersetzt keine professionelle Beratung oder Behandlung. Bei Verdacht auf eine dissoziative Störung sollte fachliche Hilfe durch spezialisierte Therapeuten in Anspruch genommen werden.