Teil 1: Scherben eines Traums
Michael Berger stand am Fenster seines Büros und starrte hinaus auf die verregnete Straße, wo Menschen mit bunten Regenschirmen wie kleine Farbtupfer durch den grauen Novembertag huschten. Der Regen passte zu seiner Stimmung – ein monotones Trommeln, das seine Gedanken begleitete. Seit Wochen schon kreisten seine Gedanken um Clara Winkler, seine Kollegin aus der Marketingabteilung. Mit ihr zusammenzuarbeiten war für ihn zum Höhepunkt jedes Arbeitstages geworden.
„Träumst du wieder, Berger?“ Thomas, sein Büronachbar, klopfte ihm auf die Schulter und riss ihn aus seinen Gedanken.
„Ich habe nur nachgedacht,“ murmelte Michael und wandte sich wieder seinem Bildschirm zu, auf dem ein halbfertiges Architekturmodell schimmerte.
Die Wahrheit war komplizierter. Seit fast einem Jahr arbeitete er nun mit Clara an verschiedenen Projekten zusammen. Ihre braunen Locken, die Art wie sie die Stirn runzelte, wenn sie konzentriert war, ihr Lachen – er hatte sich hoffnungslos in sie verliebt. Jede gemeinsame Mittagspause, jedes Lächeln hatte sein Herz höher schlagen lassen. Und er war sich sicher, dass zwischen ihnen etwas Besonderes war.
Am Nachmittag würden sie sich wieder treffen, um an der Präsentation für das Rheinufer-Projekt zu arbeiten. Michael hatte entschieden, dass es an der Zeit war, seine Gefühle zu offenbaren.
Als Clara den Konferenzraum betrat, trug sie eine hellblaue Bluse, die ihre Augen zum Leuchten brachte. Sie lächelte ihn an, und sein Herz machte einen Satz.
„Ich habe Kaffee mitgebracht,“ sagte sie und stellte einen Becher vor ihm ab. „Schwarz, zwei Stück Zucker, richtig?“
„Du kennst mich zu gut,“ antwortete er mit einem nervösen Lächeln.
Die Stunden vergingen, während sie arbeiteten. Ihre Schultern berührten sich gelegentlich, wenn sie gemeinsam auf den Bildschirm schauten. Jede Berührung schickte ein Kribbeln durch Michaels Körper.
Als sie fertig waren, saßen sie noch einen Moment schweigend nebeneinander. Durch das Fenster fiel das letzte Tageslicht, ließ ihre Haut golden schimmern.
„Clara,“ sagte Michael schließlich, seine Stimme leicht zitternd. „Ich wollte schon lange mit dir über etwas sprechen.“
Sie sah ihn erwartungsvoll an, ihre warmen braunen Augen fragend.
„Ich… ich fühle mich sehr zu dir hingezogen. Seit wir zusammenarbeiten, hat jeder Tag mit dir mein Leben heller gemacht. Ich weiß, es ist vielleicht nicht der richtige Ort, aber ich…“ Er holte tief Luft. „Ich habe mich in dich verliebt.“
Die Stille, die folgte, war erdrückend. Clara blinzelte mehrmals, ihre Lippen leicht geöffnet. Dann senkte sie den Blick.
„Michael, ich… ich weiß nicht, was ich sagen soll. Ich hatte keine Ahnung…“
Sein Herz zog sich zusammen. „Es tut mir leid, wenn ich dich überrumpelt habe.“
„Nein, das ist es nicht,“ sagte sie sanft. „Ich schätze dich sehr, als Kollegen und als Freund. Du bist ein wundervoller Mensch, aber…“ Sie zögerte. „Ich bin seit drei Jahren mit jemandem zusammen. Wir wollen im Frühjahr heiraten.“
Die Worte trafen ihn wie ein Schlag in die Magengrube. „Heiraten? Ich… ich wusste nicht…“
„Ich trage meinen Ring nicht bei der Arbeit,“ erklärte sie und zog eine feine Silberkette aus ihrem Kragen, an der ein schlichter Verlobungsring hing. „Wegen der Zeichnungen und der Arbeit am Computer.“
Michael starrte auf den Ring, der im Halbdunkel schimmerte. Wie hatte er das nie bemerkt? Wie hatte er die Zeichen so falsch deuten können?
„Es tut mir so leid, Michael,“ fuhr Clara fort, ihre Stimme voller Mitgefühl. „Ich hätte vielleicht deutlicher sein sollen…“
„Nein, nein,“ unterbrach er sie, sein Gesicht brannte vor Scham. „Es ist nicht deine Schuld. Ich habe… ich habe Dinge gesehen, die nicht da waren.“
Die folgenden Wochen wurden zur Tortur. Jede Begegnung mit Clara im Büro war von peinlicher Spannung erfüllt. Michael vermied es, mit ihr allein zu sein, verschob Meetings oder schickte Stellvertreter. Das Rheinufer-Projekt, einst sein Lieblingsprojekt, wurde zur Qual.
Nachts lag er wach, durchlebte immer wieder den Moment seines Geständnisses, imaginierte alternative Verläufe, in denen Clara ihre Arme um ihn schlang und gestand, dass sie heimlich ebenso fühlte. Aber die Realität war anders, und jede Erinnerung schmerzte wie ein frischer Schnitt.
In der Kantine saß er nun allein oder mit anderen Kollegen. Clara grüßte ihn freundlich, wenn sie sich begegneten, aber die natürliche Leichtigkeit zwischen ihnen war verschwunden.
Eines Abends, als er allein im Büro zurückgeblieben war, stand er am selben Fenster wie damals und betrachtete die Lichter der Stadt. Thomas, der ebenfalls Überstunden machte, stellte sich neben ihn.
„Sie hat dich abgewiesen, nicht wahr?“
Michael nickte stumm.
„Weißt du,“ fuhr Thomas fort, „manchmal ist der größte Schmerz auch der größte Lehrer.“
Michael schnaubte bitter. „Was soll ich daraus lernen? Dass ich ein Idiot bin?“
„Nein. Dass du den Mut hattest, es zu versuchen. Viele Menschen leben ihr ganzes Leben in stillem Sehnen, ohne je den Mut für das Risiko zu finden.“
Doch die Worte erreichten Michael nicht wirklich. Der Schmerz war zu frisch, zu tief. Als ihm einige Wochen später eine Stelle in der Hamburger Niederlassung angeboten wurde, zögerte er nicht lange. Ein Neuanfang, weit weg von den täglichen Erinnerungen, schien die einzige Lösung.
Teil 2: Neue Horizonte
Hamburg empfing Michael mit sturmgepeitschtem Regen und dem Geruch von Salz und Tang. Die Stadt an der Elbe, rau und zugleich elegant, spiegelte sein inneres Durcheinander wider. Sein neues Apartment in Ottensen war klein, aber die alten Holzdielen und die hohen Decken gaben ihm ein Gefühl von Raum zum Atmen.
„Sie müssen der Neue sein,“ begrüßte ihn Frau Gerlach, eine ältere Dame aus der Wohnung gegenüber, als er mit seinen ersten Kartons eintraf. „Willkommen im Haus. Wenn Sie etwas brauchen – eine Tasse Zucker oder ein offenes Ohr – meine Tür steht immer offen.“
Michael dankte ihr höflich, aber in den ersten Wochen hielt er sich zurück. Die Arbeit in der neuen Niederlassung war anspruchsvoll, und er war dankbar dafür. Je mehr er arbeiten konnte, desto weniger Zeit blieb für Gedanken an Clara.
Doch die Abende waren lang und einsam. In solchen Momenten schlich sich die Erinnerung an ihre braunen Locken, ihr Lachen wieder in sein Bewusstsein, und eine Welle von Schmerz und Scham überkam ihn.
Nach zwei Monaten fand er in seinem Briefkasten einen Flyer für eine Ausstellung in einer kleinen Galerie am Hafen. „Urbane Perspektiven: Architektur durch die Linse“ lautete der Titel. Normalerweise hätte er solche Flyer sofort entsorgt, aber irgendetwas an den Schwarz-Weiß-Fotografien auf dem Papier zog ihn an.
An einem verregneten Freitagabend, als die Wände seiner Wohnung ihm zu nahe kamen, beschloss er, die Ausstellung zu besuchen.
Die Galerie war in einem umgebauten Lagerhaus untergebracht, mit rauen Backsteinwänden und alten Holzbalken. Die Fotografien an den Wänden zeigten die Stadt aus ungewöhnlichen Perspektiven – Treppenhäuser, die wie Spiralen in die Unendlichkeit führten, Fassaden, deren Symmetrie durch geschickte Winkel aufgebrochen wurde, die Reflexionen von Gebäuden in Pfützen, die eine alternative Realität zu schaffen schienen.
Michael verlor sich in den Bildern, vergaß für kurze Zeit seinen Schmerz. Eine Fotografie zog ihn besonders an: ein altes Treppenhaus, durch dessen Fenster das Licht in solch perfekten Strahlen fiel, dass es fast übernatürlich wirkte.
„Das ist mein Favorit,“ sagte eine ruhige Stimme neben ihm. Eine Frau mit kurzen, dunklen Haaren und einer Kamera um den Hals stand da. „Die Art, wie das Licht durch den Staub sichtbar wird.“
„Es ist, als hätte man einen Moment eingefangen, der normalerweise unbemerkt bleibt,“ antwortete Michael.
Die Frau lächelte. „Genau das ist es, was ich liebe. Die Schönheit im Alltäglichen zu finden.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. „Ich bin übrigens Eva, die Fotografin.“
„Michael,“ erwiderte er und schüttelte ihre Hand. „Du hast diese Bilder gemacht? Sie sind wirklich beeindruckend.“
Sie unterhielten sich lange über Fotografie, Architektur und die Verbindung zwischen beiden. Eva erzählte von ihren Streifzügen durch die Stadt, immer auf der Suche nach dem besonderen Blickwinkel, Michael von seiner Arbeit und seiner Faszination für die Art, wie Räume Menschen beeinflussen.
„Ich biete auch Workshops an,“ sagte Eva schließlich. „Falls du Interesse hast, selbst durch die Linse zu entdecken.“
Michael zögerte. Fotografie war nie sein Hobby gewesen. Und doch – etwas Neues zu beginnen, einen anderen Blick auf die Welt zu entwickeln, schien plötzlich verlockend.
Eine Woche später stand er mit einer geliehenen Kamera am Hamburger Hafen, umgeben von einer kleinen Gruppe anderer Anfänger. Eva erklärte geduldig die Grundlagen der Belichtung, der Komposition, des Lichts.
„Versucht nicht, perfekte Bilder zu machen,“ sagte sie. „Versucht, eure Perspektive zu teilen. Was seht ihr, das andere vielleicht übersehen?“
In den folgenden Wochen wurde die Fotografie zu Michaels Zufluchtsort. Er streifte durch die Stadt, fing Momente ein – den Dampf, der von einer Kaffeetasse aufstieg, die verschlungenen Äste eines alten Baums im Park, die müden Gesichter von Pendlern in der U-Bahn.
Frau Gerlach wurde zu einer unerwarteten Freundin. Sie lud ihn zum Tee ein, zeigte ihm alte Fotoalben aus der Nachkriegszeit und erzählte Geschichten von einem Hamburg, das längst vergangen war. Michael brachte ihr bei, wie man E-Mails schreibt, damit sie mit ihrer Enkelin in Australien in Kontakt bleiben konnte.
Langsam, fast unmerklich, begann Claras Bild zu verblassen. Es gab Tage, an denen er nicht an sie dachte, und wenn doch, dann war der Schmerz dumpfer, weniger akut.
Bei einem der Fotografie-Workshops half er einer älteren Dame, die Probleme mit ihrer Kamera hatte. Ihr Name war Ingrid, und sie war Bibliothekarin im Ruhestand.
„Junger Mann,“ sagte sie, nachdem er ihr Problem gelöst hatte, „Sie haben Geduld mit alten Damen. Das ist selten geworden.“
Michael lächelte. „Meine Mutter würde widersprechen. Sie sagt, ich sei zu ungeduldig.“
„Nun, kommen Sie doch mal in unseren Lesekreis. Wir treffen uns jeden zweiten Dienstag in der Stadtteilbibliothek. Ein bisschen Literatur und Gesellschaft würde Ihnen gut tun.“
Zu seiner eigenen Überraschung nahm Michael die Einladung an. Der Lesekreis bestand hauptsächlich aus älteren Menschen, aber ihre Lebensgeschichten und Perspektiven faszinierten ihn. Sie diskutierten über Bücher, die er nie gelesen hätte, und zwangen ihn, über Dinge nachzudenken, die weit über seinen eigenen Erfahrungshorizont hinausgingen.
Eva und er trafen sich regelmäßig zu Fotospaziergängen. Sie war direkt, manchmal fast schroff, aber er mochte ihre Ehrlichkeit. Sie forderte ihn heraus, seine Komfortzone zu verlassen, andere Blickwinkel einzunehmen.
„Du versteckst dich vor etwas,“ sagte sie eines Tages, als sie am Elbstrand saßen und den vorbeiziehenden Schiffen zusahen. „Deine Bilder sind technisch gut, aber es fehlt etwas. Als würdest du nicht wirklich hinsehen wollen.“
Michael schwieg lange. Dann, zu seiner eigenen Überraschung, erzählte er ihr von Clara, von der Zurückweisung, von der Scham.
Eva hörte zu, ohne zu unterbrechen. Als er fertig war, nickte sie nachdenklich.
„Weißt du, was das Problem ist? Nicht, dass sie dich nicht wollte. Sondern dass du denkst, es sei eine Reflexion deines Wertes.“
„Ist es das nicht?“
„Nein. Es ist nur eine Tatsache. Sie hatte bereits eine Verbindung. Das hat nichts mit dir zu tun.“
Die Worte waren einfach, fast banal, und doch trafen sie etwas in Michael. War es möglich, dass er die ganze Zurückweisung nicht als das gesehen hatte, was sie war – eine einfache Inkompatibilität der Umstände – sondern als Bestätigung seiner tiefsten Ängste, nicht liebenswert zu sein?
Teil 3: Unerwartete Wendungen
Ein Jahr war vergangen, seit Michael Hamburg zu seiner neuen Heimat gemacht hatte. Der Frühling hatte die Stadt in ein sattes Grün getaucht, und überall blühten Kirschbäume in zartem Rosa.
„Du solltest wirklich für die Ausstellung einreichen,“ drängte Eva, während sie durch seine neuesten Fotografien blätterte. Sie saßen in seinem Wohnzimmer, das nun mit eigenen Bildern an den Wänden und Büchern aus dem Lesekreis gefüllt war.
„Ich bin nicht sicher, ob sie gut genug sind,“ zweifelte Michael.
„Da ist sie wieder, diese Unsicherheit,“ seufzte Eva. „Du hast etwas zu sagen, Michael. Diese Serie über die alten Handwerker – sie erzählt eine Geschichte, die selten erzählt wird.“
Schließlich gab er nach und reichte eine Serie von Porträts ein, die er von Handwerkern in ihren Werkstätten aufgenommen hatte – ein Schuster mit von der Arbeit gezeichneten Händen, eine Schneiderin inmitten von Stoffbahnen, ein Glasbläser, dessen Gesicht vom Feuer erleuchtet wurde.
Zu seiner Überraschung wurden seine Bilder angenommen. Die Ausstellung sollte in einer größeren Galerie in der Hafencity stattfinden.
Am Abend der Vernissage stand Michael nervös neben seinen Fotografien und beobachtete, wie die Besucher davor stehen blieben, diskutierten, manchmal nickten.
„Diese Bilder haben Seele,“ sagte eine weiche Stimme neben ihm. Er drehte sich um und sah eine Frau mit langen, kupferroten Haaren, die in einem schlichten schwarzen Kleid vor seinem Lieblingsbild stand – dem Porträt des alten Schusters.
„Danke,“ antwortete er. „Ich versuche, die Menschen hinter dem Handwerk zu zeigen.“
„Das ist genau das, was mich berührt. Man spürt die Leidenschaft in ihren Gesichtern.“ Sie streckte ihm ihre Hand entgegen. „Ich bin Sophie.“
„Michael. Freut mich.“
„Bist du schon lange Fotograf?“
Er lachte leise. „Eigentlich bin ich Architekt. Die Fotografie ist ein Hobby, das… nun, ein Hobby, das mir über eine schwierige Zeit hinweggeholfen hat.“
Sophie nickte verstehend. „Die besten Dinge entstehen oft aus Schmerz, nicht wahr?“
Ihr Gespräch floss mühelos. Sophie, erfuhr er, war Restauratorin und arbeitete im Museum für Kunst und Gewerbe. Sie hatte ein tiefes Verständnis für Handwerk und Geschichte, und ihre Begeisterung, wenn sie über ihre Arbeit sprach, war ansteckend.
Als die Vernissage zu Ende ging, standen sie noch immer im Gespräch vertieft.
„Es gibt ein kleines Café um die Ecke, das um diese Zeit noch geöffnet ist,“ schlug Sophie vor. „Falls du noch nicht nach Hause musst?“
Sie saßen bis nach Mitternacht in dem kleinen, gemütlichen Café, erzählten von ihren Arbeiten, ihren Reisen, ihren Lieblingsplätzen in der Stadt. Michael stellte fest, dass er sich seit langer Zeit wieder vollkommen entspannt fühlte.
In den folgenden Wochen trafen sie sich regelmäßig. Sophie zeigte ihm versteckte Winkel im Museum, er nahm sie mit auf seine Fotospaziergänge. Sie war anders als Clara – ruhiger, nachdenklicher, mit einem trockenen Humor, der ihn überraschte.
Manchmal, wenn er sie ansah, wie sie konzentriert eine Ausstellung betrachtete oder lachend über eine seiner Geschichten, spürte er ein warmes Gefühl in seiner Brust. Doch er hielt sich zurück, zu verängstigt von der Erinnerung an seine Zurückweisung.
„Was hält dich zurück?“ fragte Eva eines Tages direkt, als sie zusammen Fotos bearbeiteten. „Du sprichst andauernd von ihr, aber du machst keinen Schritt.“
„Ich bin nicht sicher, ob sie mehr als Freundschaft will,“ antwortete er ausweichend.
Eva verdrehte die Augen. „Und das wirst du auch nie herausfinden, wenn du nicht fragst.“
„Was ist, wenn sie Nein sagt? Wenn ich wieder alles zerstöre?“
„Was ist, wenn sie Ja sagt? Was ist, wenn du das Glück verpasst, weil du zu viel Angst vor dem Scheitern hast?“
Ihre Worte hallten in ihm nach. War er bereit, wieder zu riskieren, verletzt zu werden?
An einem warmen Sommerabend schlenderten Michael und Sophie durch den Stadtpark. Die Sonne ging unter und tauchte alles in goldenes Licht.
„Ich habe neulich einen Brief von meiner ehemaligen Kollegin bekommen,“ sagte Michael plötzlich. „Clara.“
Sophie nickte. Er hatte ihr von Clara erzählt, von seinem Umzug nach Hamburg, von dem Neuanfang.
„Sie hat geheiratet,“ fuhr er fort. „Sie hat Fotos mitgeschickt.“
„Wie fühlst du dich dabei?“ fragte Sophie sanft.
Michael dachte nach. „Seltsam ist… ich bin nicht traurig. Nicht mehr. Ich bin froh für sie.“
Sie blieben stehen, schauten über den kleinen See, in dem sich der Abendhimmel spiegelte.
„Weißt du,“ sagte Michael leise, „ich dachte immer, Liebe müsste sich anfühlen wie ein Sturm. Überwältigend. Alles verschlingend.“
„Und jetzt?“ Sophies Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.
Er drehte sich zu ihr, sah in ihre grünen Augen, die im goldenen Licht fast bernsteinfarben wirkten. „Jetzt denke ich, dass wahre Liebe vielleicht eher wie Heimkommen ist. Ruhig. Sicher. Ein Ort, an dem man sich nicht verstellen muss.“
Sophie lächelte, eine kleine Falte erschien zwischen ihren Augenbrauen. „Das klingt schön.“
Michael holte tief Luft. „Sophie, ich… ich habe in den letzten Monaten gemerkt, dass ich mehr für dich empfinde als nur Freundschaft. Und ich würde gerne wissen, ob du vielleicht… ob wir vielleicht…“
„Ja,“ unterbrach sie ihn mit einem strahlenden Lächeln. „Ja, das würde ich sehr gerne.“
Langsam, fast scheu, neigte er sich zu ihr und küsste sie. Es war nicht der verzehrende Brand, den er bei Clara empfunden hatte, sondern eine sanfte Wärme, die sich in seiner Brust ausbreitete wie die letzten Sonnenstrahlen des Tages.
Teil 4: Ankommen
Zwei Jahre später stand Michael am Fenster seiner Wohnung und betrachtete den Sonnenaufgang über der Elbe. Hinter ihm hörte er das leise Klappern von Geschirr, als Sophie das Frühstück vorbereitete.
„Träumst du wieder, Berger?“ fragte sie neckend, eine Anspielung auf ihre erste Begegnung.
Er drehte sich um und lächelte. „Ich denke nur daran, wie glücklich ich bin.“
Sie war zu ihm gezogen vor sechs Monaten, und das Apartment hatte sich verändert – ihre Bücher standen neben seinen im Regal, ihre Keramikarbeiten schmückten die Fensterbänke, ihre Pflanzen brachten Leben in jeden Winkel.
Sie reichte ihm eine Tasse Kaffee und stellte sich neben ihn ans Fenster. „Ich habe gestern mit dem Galeristen gesprochen. Er ist begeistert von unserer Idee für die gemeinsame Ausstellung.“
Die Idee war während eines ihrer Spaziergänge entstanden – seine Fotografien neben ihren restaurierten Objekten, eine Gegenüberstellung von Vergangenheit und Gegenwart, von Erhaltung und Dokumentation.
„Ich bin nervös,“ gestand er. „Es ist etwas ganz anderes als alles, was ich bisher gemacht habe.“
Sie griff nach seiner Hand. „Das ist das Schöne daran. Wir wachsen gemeinsam.“
Später am Tag besuchten sie Frau Gerlach, die mittlerweile fast wie eine Großmutter für Michael war. Sie brachten Kuchen mit, und Frau Gerlach machte Tee in ihrem alten Porzellanservice.
„Ihr zwei strahlt ja förmlich,“ bemerkte sie, während sie Michael und Sophie beobachtete.
Michael lächelte. „Wir haben gestern einen Schritt gewagt.“
Sophie hielt ihre Hand hoch, an der ein schlichter Ring mit einem kleinen Saphir funkelte. „Er hat mich gefragt, ob ich ihn heiraten will.“
Frau Gerlachs Augen leuchteten auf. „Oh, wie wunderbar! Und? Was hast du geantwortet?“
Sophie lachte. „Was glauben Sie denn?“
Sie verbrachten den Nachmittag damit, mit Frau Gerlach alte Fotoalben durchzublättern, Geschichten auszutauschen, zu lachen.
Als sie später durch die Straßen zurück zu ihrer Wohnung schlenderten, Arm in Arm, fiel Michael auf, wie vertraut ihm diese Stadt nun geworden war. Jede Straßenecke hatte eine Geschichte, jeder Park eine Erinnerung.
„Weißt du noch, als du mir zum ersten Mal von Clara erzählt hast?“ fragte Sophie plötzlich.
Michael nickte. „Ja, natürlich.“
„Glaubst du an Schicksal? Daran, dass manche Dinge passieren müssen, damit andere möglich werden?“
Er dachte nach. „Ich weiß nicht, ob ich an Schicksal glaube. Aber ich glaube daran, dass wir aus jeder Erfahrung etwas lernen können, das uns auf den nächsten Schritt vorbereitet.“
Sie blieben stehen, und er drehte sich zu ihr, nahm ihr Gesicht in seine Hände.
„Was ich aus Clara gelernt habe, war nicht, dass ich nicht liebenswert bin. Sondern dass echte Liebe Raum braucht zum Wachsen, Vertrauen, um zu gedeihen, und zwei Menschen, die wirklich bereit sind, sich zu sehen – mit allen Ecken und Kanten.“
Sophie lächelte, Tränen glitzerten in ihren Augen. „Und das haben wir?“
„Das haben wir,“ bestätigte er und küsste sie sanft. „Und jeden Tag ein bisschen mehr.“
Als sie weitergingen, dachte Michael an die verschlungenen Wege, die ihn hierher geführt hatten. An den Schmerz, der ihn nach Hamburg getrieben hatte. An die Fotografie, die ihm geholfen hatte, die Welt mit anderen Augen zu sehen. An all die Menschen, die Teil seines neuen Lebens geworden waren.
Er dachte an Clara, die nun ihr eigenes Glück gefunden hatte, und spürte nichts als Dankbarkeit. Dankbarkeit für die Lektion, die er hatte lernen müssen. Und für den Umweg, der ihn schließlich dorthin geführt hatte, wo er jetzt war – an der Seite einer Frau, mit der er wachsen konnte, mit der er sich entwickeln konnte, mit der er sein konnte, wer er wirklich war.