Stille. Dann ein Flüstern.
Raziel fühlte nichts. Kein Schmerz, kein Zorn, keine endlose Pein, die sein Dasein nach Kains Verrat definiert hatte. Nur eine leere Schwärze, in der er zu schweben schien – ziellos, ohne Form, ohne Ziel. Hatte er endlich den Kreislauf der Verdammnis durchbrochen? War dies das wahre Ende?
Doch plötzlich … ein Licht.
Es war nicht das gleißende Feuer des Schicksalsbrunnens, in den er sich geopfert hatte, sondern ein schwaches, bläuliches Glühen. Ein Echo der Seele, das nicht verstummen wollte. Eine Stimme flüsterte seinen Namen.
„Raziel …“
Sein Bewusstsein regte sich, und mit einem Mal spürte er wieder seine Form. Sein Ätherkörper, einst verzerrt und zerrissen, wurde in die Realität zurückgezogen. Er öffnete seine Augen – oder das, was von ihnen übrig war – und fand sich in einer seltsamen Zwischenwelt wieder. Nicht die Spektralebene, nicht Nosgoth, sondern etwas dazwischen.
Vor ihm stand eine Gestalt. Nicht der Ältere Gott, nicht Kain. Es war ein Wesen aus Licht und Schatten, das sich in ständiger Bewegung zu befinden schien.
„Warum bist du noch hier?“ fragte Raziel mit rauer Stimme. „Ich habe mich geopfert. Ich habe meine Aufgabe erfüllt.“
Die Gestalt schwieg für einen Moment, als würde sie die Worte abwägen.
„Dein Opfer hat den Kreislauf gebrochen,“ sagte sie schließlich. „Aber es hat auch eine Leere hinterlassen.“
Raziel wusste, wovon sie sprach. Kain hatte sein Schicksal angenommen, doch was war mit dem Rest von Nosgoth? Der Ältere Gott war noch immer dort, lauernd im Schatten, wartend darauf, seine Macht erneut über die Welt zu legen. Und ohne eine Balance …
„Ich bin der Wächter der Zeit,“ sprach die Gestalt. „Und du, Raziel, bist nicht völlig verloren. Dein Schicksal ist noch nicht entschieden.“
Zorn loderte in Raziel auf.
„Genug mit den Rätseln!“ fauchte er. „Ich bin es leid, ein Bauer zu sein! Was verlangst du von mir?“
Die Gestalt neigte den Kopf.
„Ich biete dir eine Wahl. Kehre in den Strom der Zeit zurück – nicht als Schachfigur, sondern als freier Krieger. Oder löse dich auf und ruhe endlich in Frieden.“
Raziel schwieg. Nach allem, was er durchgemacht hatte, klang die Vorstellung von Ruhe verlockend. Doch wenn er ging … was würde dann aus Nosgoth werden? War Kain wirklich in der Lage, den Älteren Gott allein zu bekämpfen?
Ein Gedanke durchzuckte ihn. Wenn er zurückkehrte, konnte er vielleicht endlich seinen eigenen Weg wählen. Kein Diener mehr sein. Kein Werkzeug des Schicksals.
Langsam hob er den Kopf.
„Zeige mir den Weg,“ sagte er schließlich.
Ein Lächeln huschte über das Gesicht der Gestalt. Sie hob eine Hand – und mit einem Schlag wurde Raziel von Licht umhüllt. Sein Körper schmerzte, doch diesmal war es anders. Nicht wie das Zerren der Spektralebene, nicht das Brennen des Seelenreißers – es war … Erneuerung.
Dann fiel er.
Durch die Zeit, durch den Raum. Sein Körper formte sich neu, seine Seele wurde wieder eins. Als er aufschlug, kniete er auf dem kalten, steinigen Boden einer Ruine. Der Geruch von Tod und Verfall lag in der Luft. Nosgoth war noch immer gezeichnet von der Vergangenheit.
Er stand auf.
Sein neuer Kampf hatte begonnen.