In den dunklen Gassen des alten Wiens lebte Victoria seit mehr als dreihundert Jahren. Die Zeit hatte ihre alabasterfarbene Haut nicht gezeichnet, ihre smaragdgrünen Augen leuchteten noch immer so intensiv wie in jener Nacht im Jahre 1723, als sie verwandelt wurde.
Die moderne Welt war ihr fremd geworden. Smartphones, Internet und grelles LED-Licht hatten die romantische Dunkelheit vertrieben, die sie so liebte. Doch sie hatte gelernt, sich anzupassen. Tagsüber schlief sie in ihrer eleganten Altbauwohnung, deren Fenster mit speziell angefertigten Verdunkelungsrollos ausgestattet waren. Nachts arbeitete sie als Kuratorin in einem kleinen, privaten Museum für mittelalterliche Kunst – ein perfekter Beruf für jemanden, der die ausgestellten Epochen selbst miterlebt hatte.
An einem nebligen Novemberabend veränderte sich alles. Ein junger Restaurator namens Marcus begann im Museum zu arbeiten. Er fiel ihr sofort auf – nicht wegen seines Blutes, das war ihr längst gleichgültig geworden, sondern wegen seiner tiefen Faszination für die Geschichte. Er sah in den alten Gemälden das, was sie sah: Geschichten, Leben, vergangene Zeiten.
Victoria wusste, dass sie sich fernhalten sollte. Dreihundert Jahre hatte sie jeden zu nahen Kontakt vermieden. Doch Marcus’ ehrliches Interesse an der Vergangenheit, seine sanfte Art und sein scharfer Verstand zogen sie unwiderstehlich an.
Eines Abends, als sie gemeinsam an der Restaurierung eines Renaissance-Gemäldes arbeiteten, geschah das Unvermeidliche. Marcus schnitt sich an einer scharfen Kante. Der Geruch seines Blutes ließ Victoria erstarren. Ihre Augen veränderten sich für einen Sekundenbruchteil, und Marcus sah es.
Statt wegzulaufen, wie sie es erwartet hatte, blieb er ruhig. “Ich habe mich schon gefragt, wann du es mir zeigen würdest”, sagte er leise. “Die Art, wie du über die Geschichte sprichst, als hättest du sie selbst erlebt… die Tatsache, dass ich dich nie im Tageslicht sehe…”
In dieser Nacht erzählte Victoria zum ersten Mal seit Jahrhunderten einem Menschen ihre wahre Geschichte. Sie sprach von der französischen Revolution, die sie miterlebt hatte, von den düsteren Zeiten der Pest, von der Einsamkeit der Unsterblichkeit.
Marcus hörte zu, ohne zu urteilen. In den folgenden Wochen teilte er ihre Nachtwelt, während sie seine Tageswelt durch seine Erzählungen kennenlernte. Er brachte ihr bei, moderne Technologie zu nutzen, sie lehrte ihn die vergessenen Sprachen der Geschichte.
Doch ihre Beziehung stand vor einem unmöglichen Dilemma. Victoria konnte und wollte Marcus nicht verwandeln – sie würde ihm diesen Fluch nicht aufbürden. Gleichzeitig wusste sie, dass sie ihn verlieren würde, wenn er alterte.
An einem Winterabend traf Marcus die Entscheidung für sie beide. “Die Zeit, die wir haben, ist kostbar genug”, sagte er. “Ich möchte lieber ein erfülltes Leben mit dir verbringen als eine Ewigkeit ohne dich.”
So lernte ein Vampir nach dreihundert Jahren wieder, was es bedeutet, die Vergänglichkeit zu akzeptieren und jeden Moment wertzuschätzen. Victoria und Marcus verbrachten die nächsten Jahrzehnte damit, Geschichte zu bewahren und ihre eigene Geschichte zu schreiben.
Und wenn heute Besucher durch das kleine Museum gehen, erzählt man sich, dass in manchen Nächten eine zeitlos schöne Kuratorin zwischen den Ausstellungsstücken wandelt, begleitet von einem älter werdenden Mann, deren Liebe stärker war als die Unsterblichkeit selbst.